05.12.2011Mangelhafte medizinische Versorgung in Bremen

Seit Gründung des Netzwerks Polio Selbsthilfe Bremen im August 2011 erreicht eine Flut von Anrufen den Bundesverband Polio Selbsthilfe in Bielefeld. Die Anrufer leiden unter dem Post-Polio-Syndrom und finden in und um Bremen keine Mediziner, die sich mit diesem Krankheitsbild auskennen. Der Bundesverband Polio Selbsthilfe wirft den Bremer Ärzten Versagen vor.

An der Suche nach qualifizierten Ärzten für seine Frau Heide ist Friedrich Becker schon fast verzweifelt. „Ein Arzt hat uns gesagt, die Krankheit meiner Frau sei so selten, da könne er sich unmöglich einarbeiten. Die Sprechstundenhilfe eines anderen hat uns abgelehnt, weil eine so kranke Patientin das Budget zu sehr belaste.“

Heide Becker leidet am Post-Polio-Syndrom, einer Folgeerkrankung der Kinderlähmung. 1946 erkrankte sie am Polio-Virus, verbrachte eineinhalb Jahre in der Klinik Bremen Ost. Dank regelmäßigen Schwimmtrainings erholte ihr Körper sich, sie trainierte sogar Kinder und Seniorenschwimmer des SV Weser 1885 e.V.

Doch Anfang der 90-er Jahre kehrte die Krankheit zurück. Denn Nerven und Muskeln mussten nach der Erkrankung etwa das Zehnfache ihrer normalen Leistung aufbringen. Sie arbeiteten jahrzehntelang an der Leistungsgrenze. Irgendwann folgten Schmerzen, Erschöpfungszustände, Schlaflosigkeit und Atemnot, schwere Stürze und körperliche Zusammenbrüche. „Bis 1997 habe ich an Wettkämpfen teilgenommen, doch nachher kam ich nicht mal mehr auf den Startblock“, erzählt Heide Becker.Dass sie am Post-Polio-Syndrom leidet, konnte ihr kein Arzt sagen. Das fand sie selbst heraus, als sie per Zufall einen Zeitschriftenartikel über diese Krankheit las. Die Suche nach einem qualifizierten Mediziner endete in Hannover.

Die Geschichte von Heide Becker ist kein Einzelfall. „Was Post-Polio betrifft, habe ich in und um Bremen bisher vergeblich einen Spezialisten gesucht“, sagt Renske Hagelweide aus Worpswede, die 1959 an Kinderlähmung erkrankte und seit etwa acht Jahren unter dem Post-Polio-Syndrom leidet. Sie hat sich an den Bundesverband Polio Selbsthilfe e.V. gewandt und im Internet recherchiert, um etwas über ihre Erkrankung zu erfahren. „Die beste Hilfe geben andere Betroffene.“

„Wir haben uns bereits im August an die Kassenärztliche Vereinigung Bremen gewandt, um auf die mangelhafte medizinische Versorgung aufmerksam zu machen“, sagt Karola Rengis, 1. Vorsitzende des Bundesverbandes Polio Selbsthilfe e.V. mit Sitz in Bielefeld. „Zuvor hatten wir im Rehazentrum Friedehorst das Netzwerk Polio-Selbsthilfe-Bremen gegründet. Seit der Gründung erleben wir eine wahre Flut von Anrufen der Poliobetroffenen aus dem Raum Bremen. Vielen von ihnen wird erst durch unsere Veröffentlichungen klar, dass sie unter dem Post-Polio-Syndrom leiden. Kein Arzt konnte ihnen das bisher sagen.“

Die KVHB hat sich des Themas angenommen, allerdings nicht zur Zufriedenheit von Polio Selbsthilfe e.V. „Leider ging unser erstes Schreiben verloren, doch auf das zweite antwortete der Vorsitzende der KVHB, Dr. Jörg Hermann“, erzählt Karola Rengis. „Er könne keine Notsituation für die Behandlung der Kinderlähmung erkennen. Im Raum Bremen stünden für die Diagnose und die Behandlung von Polio Ärzte zur Verfügung.“

Karola Rengis meint jedoch, dass man bei der KVHB Polio Kinderlähmung nicht vom Post-Polio-Syndrom unterscheiden könne. „Dr. Hermann schreibt immer von Polio. Diese Krankheit betraf uns in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, um die geht es heute sekundär. Wir sprechen vom aktuellen Post-Polio-Syndrom. Dieses Krankheitsbild kennen die Ärzte nicht, obwohl heute bundesweit mindestens 100.000 Menschen darunter leiden.“

Das Netzwerk Polio-Selbsthilfe-Bremen hat das Thema auf die Tagesordnung seines nächsten Treffens am 10. Dezember 2011 um 14.00 Uhr im Neurologischen Rehabilitationszentrum Friedehorst gesetzt. Vertreter der KVHB sind bereits eingeladen.

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Über das Netzwerk Polio Selbsthilfe e.V.
Die Polio Selbsthilfe e.V. setzt sich als Interessengemeinschaft von Kinderlähmungserkrankten seit zehn Jahren für ein Netzwerk aus Ärzten und Patienten ein. Ziel ist, über das Post-Polio-Syndrom aufzuklären und somit die Zeit von den ersten Beschwerden bis zur Diagnose zu verkürzen. Der Verein versendet Informationen zum Post-Polio-Syndrom, die in Arztpraxen und Kliniken ausgelegt werden können. Mediziner erhalten auf Anfrage das Buch „Aspekte des Post-Polio-Syndroms“ von Dr. med. Peter Brauer, Mitglied im Ärztlichen Beirat der Polio-Selbsthilfe e.V. www.polio-selbsthilfe.net

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