Post-Polio-SyndromEmpfehlungen zur Anästhesie bei Patienten mit durchgemachter Polioerkrankung

Autoren: Dr. med. W. Walter, Dr. med. B. Meister
Anästhesieabteilung der Werner Wicker Klinik
Im Kreuzfeld 4, 34537 Bad Wildungen


Patienten mit Postpolio-Syndrom sind bei Problemen im Zusammenhang mit Allgemein- oder Regionalanästhesien verunsichert. Mit den nachfolgenden Empfehlungen, die sich auf jahrzehntelange Erfahrung bei der Narkose von Skoliosepatienten mit neuromuskulärer Grunderkrankung einschließlich Polio stützen, entsprechen wir dem Wunsch der Betroffenen.

Das bisher schlüssigste Erklärungsmodell des Post-Polio-Syndroms besteht darin, daß ein primär ausgedünntes neuromuskuläres Übertragungssystem Synapse/Endplatte mit zunehmendem Alter phasenweise oder kontinuierlich dekompensiert in dem Sinne, daß degenerative Prozesse gegenüber den regenerativen überwiegen (1).

Die Leitsymptome - allgemeine stärkere Ermüdbarkeit, muskuläre Schwächen auch der Atemmuskulatur, Kälteüberempfindlichkeit und Schmerzen - führen zur Diagnose des PPS, wenn eine Polioerkrankung in der Anamnese bestand und andere Ursachen ausgeschlossen werden konnten. Das Fehlen von PPS Symptomen schließt aber bei anamnestischer Polio neuromuskuläre Übertragungsstörungen nicht aus (2).

Die Lungenfunktion kann - ohne dass sich der Patient dessen bewußt ist - bereits bedeutend reduziert sein (3).

Eine Erhöhung der Kreatinkinase im Serum kann auf chronische muskuläre Überbeanspruchung hinweisen (4).

Eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Muskelrelaxanzien wurde beschrieben (5).

Welcher Art von lokaler oder regionaler Anästhesie oder ob eine Allgemeinnarkose bei PPS im Einzelfall in Frage kommt, ist aber nicht nur vom körperlichen Zustand des Patienten und von der Art der Operation (z. B. regional begrenzt, an peripheren Körperteilen oder lang dauernde Großeingriffe ) abhängig, sondern auch von der Erfahrung des jeweiligen Anästhesisten und dessen technischen und personellen Möglichkeiten.


Folgende Besonderheiten sind zu beachten

  • Bei der präoperativen körperlichen Untersuchung des Patienten müssen bereits im Hinblick auf die Auswahl des Anästhesieverfahrens die Verhältnisse an der Wirbelsäule abgeklärt werden. Wirbelsäulenverkrümmungen oder operativ stabilisierte Wirbelsäulen können die Punktion des Spinalkanals und/oder die Intubation sowie die Lagerung des Patienten erschweren.
  • Zu den routineüblichen präoperativen Laborparametern wird die Kreatinkinase im Serum bestimmt.
  • Hinweise auf vermehrte Rechtsherzbelastung im EKG müssen echokardiographisch abgeklärt werden.
  • Eine orientierende Lungenfunktionsprüfung (Vitalkapazität, Sekundenkapazität) ist erforderlich; bei auffälligen Werten <50% Soll muß die Untersuchung erweitert werden, wobei die Mundverschlußdrucke (PI 01, PI max etc.) als Maß der inspiratorischen Muskelkraft bedeutsam sind.
  • Im Normalfall reicht als Prämedikation eine Anxiolyse in Form eines mittellang wirksamen Benzodazepins aus, das ½ bis 1 Stunde vor OP-Beginn oral verabreicht wird.

Prämedikation

0.5 - 1 Stunde präoperativ
z.B. 20mg Clorazepat (Tranxilium®) p.o.
bei >70kg KG und/oder sehr aufgeregten Patienten 50mg p.o.

Ausnahmen sind: Ileus, Erbrechen, undisziplinierte Patienten.

Eine Kombination mit

  • Analgetika, z.B. Pethidin (Dolantin®), Piritriamid (Dipid)
  • Anticholinergika, z.B. Atropi
  • H2-Blockern, z.B. Ranitidin (Zantic®)

ist in speziellen Fällen, aber nicht routinemäßig indiziert. Bei der Anwendung von Lokalanästhesia muß deren Wirkung auf die neuromuskuläre Übertragung und die ganglionäre Synapse berücksichtigt werden (6,7).

Spinalanästhesie:
0,1 ml pro Segment

Periduralanästhesie:
1,0 ml pro Segment

Wirkdauer:
< 2 Stunden z.B. Lidocain (Xylocain®)
< 4 Stunden z.B. Mepivacain (Scandicain®)
> 5 Stunden z.B. Bupivacain (Cabestesin®)

Wird der Eingriff in Allgemeinnarkose durchgeführt, muß bei entsprechender Wirbelsäulendeformierung mit der Notwendigkeit einer bronchoskopischen Intubation gerechnet werden.

Chirurgische Eingriffe > 2 Stunden haben sich als TIVA (Total Intravenöse Anästhesie) in Kombination mit Lachgas/Sauerstoffgemisch bewährt und gestatten auch den bei Skolioseoperationen geforderten Aufwachtest. Auf Isovolämie und den 1:1-Ersatz von Blutverlusten ist zu achten.

Narkoseeinleitung bei single shot-Technik z. B.:

Midazolam (Dormicum®) 0,15 mg/kg KG
Fentanyl 0,3-0,5 mg
Pancuronium 0,1 mg/kg KG

Repitionsdosis zur Aufrechterhaltung der Narkose:

Fentanyl 0,05 mgPancuronium 1-2 mg

Eingriffe > 2 Stunden

Narkoseeinleitung bei single shot-Technik z.B.:

Propofol 1,5 mg/kgKG
Fentanyl 0,2-0,3mg
Atracurium 0,3-0,4mg/kgKG
(Tracrium®)

Repitionsdosis zur Aufrechterhaltung der Narkose:

Propofol-Perfusor 10mg/kgKG/n
Fentanyl 0,5-0,1mg
Atracurium 0,3mg/kgKG
(Tracrium®)

N20/02 | 70/30 - 50/50

AMV | 100ml/kgKG

PaO2: | PaCO2:

>100mmHG | 35-40mmHG

(exp.O2: | exp.CO2:
30-35% | 32-35%

Postoperativ werden die Patienten nicht antagonisiert. Es erfolgt eine protahierte Extubation beim wachen, aufgewärmten Patienten. In Abhängigkeit von der präoperativen Lungenfunktion wird die Beatmung nichtinsasiv über eine Nasenmaske fortgeführt (8).


Anmerkungen

  1. Trojan DA, Gendron D, Cahman NR: „Stimulation frequency-dependent neusomuscular junction transmission defects in patients with prior poliomyelitis"; J Neurol Sci 1993 sep; 118 (2): 150-157
  2. Maselli RA, Cashman NR, Wollman RL, Salazar_grueso EF, Roos R: „Neuromuscular transmission as a function of motor unit size in patients with prior poliomyelitis"; Muscle Nerve 1991 Jun; 15 (6): 648-655
  3. Borg K, Kaijser L: „Lung function in patients with prior poliomyelitis"; Clin Physiol 1990 Mar; 10 (2): 201-212
  4. Waring WP, Davidoff G, Werner R: „Serum creatine kinase in the post-polio population", Am J Phys Med Rehabil 1989 Apr; 68 (2): 86-90
  5. Gyermerk L: „Increased potency of nondepolarizing relaxants after poliomyelitis"; J Clin Pharmacol 1990 Feb; 30 (2): 170-173
  6. Neher, E, Steinbach JH. „ Local anaesthetics transiently block currents thruogh single acetylcholine-receptor channels"; J Physiol (Lond) 1978 Apr; 227: 153-176
  7. Charnet P et al.: „An open-channel blocker interacts with adjacent turns of alphahelices in the nocotinic acetylcholine receptor"; Neuron 1990 Jan; 4 (1): 87-95
  8. Meister B, Walther W, Sambale R, Metz-Stavenhagen P: „ Die Behandlung neuromuskulärer Skoliose - ein interdisziplinäres Konzept"; Vortrag zum 6.Jahreskongreß der Arbeitsgemeinschaft Heimbeatmung und Respiratorenentwöhnung e.V., März 1998 (im Druck)

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