L-Carnitin → Lebensqualität bei Post-Polio verbessern
Autor: Dr. Michael Rössig
L-Carnitin ist eine natürliche Substanz, die in hoher Konzentration vor allem in Herz und Muskeln vorkommt. Weil es eine essentielle Wirkung im Energiestoffwechsel hat, trägt es maßgeblich zur Leistungsfähigkeit unseres Körpers bei. Durch Werbung und oberflächliche Berichte wird L-Carnitin oft als der Schlüssel zu körperlicher Fitness und Gewichtsabnahme angesehen. Ein Irrtum, denn L-Carnitin wirkt lediglich moderat leistungssteigernd und ersetzt nicht die körperliche Aktivität.
Viele Postpolio-Betroffene nehmen L-Carnitin ein und fühlen sich besser. Das ist vor allem auf dessen günstige Wirkung auf Herz und Muskeln zurückzuführen. Zugleich wird L-Carnitin bei starker körperliche Belastung, z.B durch Anstrengung oder mangelnde Durchblutung, wie sie auch beim Postpolio-Betroffenen vorkommt, vermehrt verbraucht. Wird es nicht ersetzt, kommt es langfristig zum L-Carnitin-Mangel mit Schwäche, schneller Erschöpfung und erhöhter zellulärer Schädigung. Zusätzlich eingenommenes L-Carnitin kompensiert den Mangel und unterstützt auf mehrfache Weise den Energiestoffwechsel. Den Betroffenen hilft es durch Linderung ihrer Beschwerden.
L-Carnitin
ist ein kleines Molekül, mit den Aminosäuren verwandt und kommt in einer Gesamtmenge von 15 - 20 g fast überall im Körper vor. Der weitaus größte Anteil findet sich mit über 95% im Herz und in der Muskulatur. Der minimale tägliche Bedarf wird durch die körpereigene L-Carnitin-Produktion in der Leber und der Niere gedeckt. Um eine ausreichende Versorgung sicherzustellen, ist aber auch das in der Nahrung enthaltene L-Carnitin von Bedeutung. Fleisch, vor allem von Lamm und Wild, aber auch vom Rind, enthält viel L-Carnitin.
L-Carnitin wirkt als nicht zu ersetzender Faktor im Energiestoffwechsel. Seine essentielle Funktion ist die Einschleusung von Fettsäuren in die Brennkammern der Zellen, die Mitochondrien. Muskeln, die Ausdauerleistung erbringen, wie z.B. das Herz oder die Beinmuskulatur des Langstreckenläufers, decken bei mässiger Anstrengung einen Grossteil ihres Energiebedarfes durch die Verbrennung von Fettsäuren. Bei starker Anstrengung und Belastung bewirkt L-Carnitin durch seine spezielle Einbindung in den Energiestoffwechsel, dass die Fettsäuren zusammen mit den Kohlenhydraten als zweiten wichtigen Energieträger in "optimaler Mischung" verbrannt werden. Zugleich neutralisiert L-Carnitin die unter diesen Bedingungen vermehrt gebildeten toxischen Stoffwechselprodukte.
L-Carnitin-Mangel
entsteht z.B. sehr häufig als Folge von Hämodialyse oder bestimmter genetisch bedingter Stoffwechselerkrankungen. Aber auch körperliche Anstrengung, Durchblutungsstörungen oder Belastung durch muskuläre Erkrankungen bewirken einen erhöhten L-Carnitin-Verbrauch, der langfristig zum L-Carnitin-Mangel führt und im Muskel nachweisbar ist. Diesen im Blut nachzuweisen ist dagegen nicht einfach, weil die L-Carnitin-Konzentration hier nur ein Bruchteil der von Herz und Muskulatur beträgt. So kann die L-Carnitin-Konzentration im Blut noch im Normalbereich liegen, während sie im Muskel schon reduziert ist.
Bei Post-Polio-Betroffenen sind in den betroffenen Muskelabschnitten die Veränderungen in der Muskelphysiologie gut untersucht. Mit der Zerstörung motorischer Nervenzellen durch das Poliovirus verkümmert ein Teil der angeschlossenen Muskelfasern. Während der Gesundungsphase übernehmen die verbliebenen Muskelfasern deren Funktion mit. Während ein Teil der Muskeln auszehrt, erbringen andere Muskelpartien die Leistungen eines Spitzensportlers.
Die aktiven Muskelfasern sind zum Teil erheblich verdickt, deren kapillare Blutversorgung dagegen verringert. Dadurch ist die Versorgung der betroffenen Muskelabschnitte mit Nährstoffen und vor allem Sauerstoff verschlechtert. Ähnlich den Verhältnissen bei Verengung größerer Gefäße im Herz oder in peripheren Muskelpartien wird mehr Laktat gebildet und mehr L-Carnitin verbraucht. Auch wenn beim Post-Polio-Betroffenen der direkte Nachweis fehlt, ist auch bei ihm eine verstärkte Belastung des L-Carnitin-Haushaltes zu vermuten. Einen Hinweis, dass Überlastung aber auch Nicht-Belastung von Muskeln zum L-Carnitin-Mangel führen, gibt eine Untersuchung von Patienten mit verbleibender Lähmung nach Polioinfektion (Post Polio Residual Paralysis, PPRS). Bei Ihnen wurde in den betroffenen Muskelpartien eine vollständige L-Carnitin-Verarmung festgestellt.
Die muskelphysiologischen Störungen tragen zu der von den Postpolio-Betroffenen empfundenen körperlichen Schwäche bei, die auch durch die Resultate klinischer Studien objektiv bestätigt wird. So war die gemessene maximale Kraft und Leistung ebenso wie die submaximale Leistung im Vergleich zu Nicht-Betroffenen deutlich verringert. Die Pulsfrequenz und der Energieverbrauch waren dagegen größer als bei der erbrachten Leistung zu erwarten gewesen wäre. Bei derselben Leistung ist die körperliche Anstrengung der Betroffenen größer.
Bemerkenswert ist, dass bei PPS-Betroffenen das „Fenster" zwischen normaler und maximaler Leistung erheblich schmaler und die Leistungsreserve geringer ist. So war in einem Laufbandtest die von den Patienten gewählte Gehgeschwindigkeit etwa gleich der von Kontrollpersonen, während die Maximalgeschwindigkeit deutlich geringer war. Das bedeutet, daß Postpolio-Patienten selbstbestimmt näher an der Grenze ihrer Belastbarkeit agieren als nicht betroffene Personen.
Die Einnahme von L-Carnitin-Präparaten
hilft Patienten mit einem L-Carnitin-Mangel. So bessert sich, in klinischen Studien dokumentiert, die Belastbarkeit bei Patienten mit fortgeschrittener Herzinsuffizienz, während Patienten mit peripherer Verschlusskrankheit beschwerdefrei längere Strecken laufen konnten. Auch über eine moderat steigernde Wirkung auf die sportliche Leistung und eine schnellere Erholung nach starker Belastung wurde in wissenschaftlichen Studien berichtet. Möglicherweise spielt hierbei die kapillarerweiternde und damit durchblutungsfördernde Wirkung von L-Carnitin auch eine Rolle.
Auch viele Patienten mit Postpolio-Syndrom nehmen L-Carnitin ein und verspüren eine günstige Wirkung auf Ausdauer, Erholung, Schmerzen. Weil L-Carnitin für den Muskelstoffwechsel benötigt wird und die Einnahme den vermuteten endogenen L-Carnitin-Mangel kompensiert, ist das auch zu erwarten. Wegen der unzureichenden Kapillarisierung der hypertrophierten Muskelfasern ist sicher auch hier die durchblutungsfördernde Wirkung von L-Carnitin von Bedeutung.
Auch wenn klinische Studien, die die günstige Wirkung von L-Carnitin bei Postpolio-Betroffenen belegen, bislang fehlen, dokumentieren die Ergebnisse zweier Erhebungen bei über 80 Betroffenen in der Schweiz, dass sich bei Einnahme von 1-2 g L-Carnitin pro Tag vor allem Ausdauer und Erholung, aber auch Schmerzen und Müdigkeit deutlich bessern. Anscheinend ist die Identifizierung der Betroffenen hierbei von Bedeutung. Diejenigen, die ihre Aktivitäten an den Grad ihrer Behinderung anpassen, verspürten eher eine günstige Wirkung als solche die hierauf weniger oder keine Rücksicht nahmen. Dieses Verhalten scheint, auch unter Berücksichtigung der oben genannten Befunde, dass Betroffene in Ihren täglichen Aktivitäten näher an Ihrer Leistungsgrenze agieren als Nicht-Betroffene von Bedeutung. Auch zur Unterstützung des den Betroffenen empfohlenen physiotherapeutischen Bewegungstrainings vermag L-Carnitin daher von Nutzen sein.
L-Carnitin kann in Form von Tabletten, Kapseln oder Trinklösungen eingenommen werden oder als Injektion verabreicht werden. Letztere haben immer Arzneimittelstatus, von den einzunehmenden L-Carnitin-Präparaten nur einige wenige. Die als Arzneimittel zugelassene L-Carnitin-Präparate, wie z. B. die L-Carn® von sigma-tau, mussten Ihre Wirksamkeit in klinischen Studien nachweisen. Auch „nur" apothekenpflichtige Arzneimittel sind seit Anfang des Jahres bei endogenem L-Carnitin-Mangel wieder erstattungsfähig.
Erfahrungsgemäß zeigt, je nach Intensität und Häufigkeit der Beschwerden, die Einnahme von 1-, 2-,3- mal täglich jeweils 1g L-Carnitin die beste Wirksamkeit. Die Einnahme einmalig grösserer Mengen lohnt auf Grund der dann abnehmenden Resorptionsrate im Darm und der schnellen Eliminierung des in das Blut gelangten L-Carnitins durch die Niere nicht. Die über den Tag verteilte Einnahme mehrerer Einzeldosen ist auch wegen des dann kontinuierlich erhöhten L-Carnitin-Spiegels im Blut und der besseren Aufnahme in das Muskelgewebe empfehlenswert.
Fazit
Postpolio-Patienten sind häufig sehr aktive Menschen. Gerade ihnen wird empfohlen, ihre Kräfte effektiv und optimal zu nutzen und nicht zu überstrapazieren. Die Entlastung und Regeneration des Bewegungssystems durch gymnastische Übungen, Bewegungshilfen und Heilbäder sollen die noch intakt gebliebene Muskulatur der Postpolio-Patienten stabilisieren und trainieren. Eine Verbesserung des Stoffwechsels in Nerven und Muskeln kann deren Funktion von innen her stärken. Die Betroffenen mit Poliomyelitisspätfolgen, welche von der Behandlung mit L-Carnitin profitieren, erfahren eine wesentliche Reduktion der Krankheitssymptomatik, eine Verbesserung von Gesundheit und Lebensqualität.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
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