28. August 2014100. Geburtstag von Jonas Salk - Polio wütet weiter

Vor 100 Jahren, am 28. Oktober 2014, wurde Jonas Salk geboren. Er ist der Entwickler des ersten wirksamen Impfstoffes gegen Polio. Unicef und WHO haben seinen Geburtstag zum Weltpoliotag ausgerufen. Seine Heimat USA feierte Salk Mitte der 50-er Jahre wie einen Nationalhelden. Doch für viele Polio-Opfer in der Bundesrepublik Deutschland kam seine Forschung zu spät. Erst von Februar 1962 an begannen die Bundesländer systematisch gegen Polio zu impfen. Heute ist der Kampf gegen das tückische Virus und seine Spätfolgen noch lange nicht gewonnen.

Als die zweieinhalbjährige Karola Rengis 1952 an Poliomyelitis erkrankte, war sie kein Einzelfall. Allein in den 50-er Jahren wurden in der Bundesrepublik Deutschland 43.803 Fälle von Kinderlähmung gemeldet. Die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. „Längst nicht jede Virusinfektion brachte Lähmungen mit sich. Oft wurde Polio einfach übersehen oder falsch diagnostiziert“, sagt Karola Rengis, die heute erste Vorsitzende des Bundesverbandes Polio Selbsthilfe e.V. ist. Sie leidet bis heute unter den Spätfolgen, dem sogenannten Post-Polio-Syndrom.

Ganz anders war die Stimmung in den USA. Polio galt als Schreckgespenst der weißen Mittelschicht. Hier wütete ein Virus, das nicht nur in den Armenvierteln Schaden anrichtete. Jedes Kind konnte getroffen werden. Sogar Franklin D. Roosevelt, US-Präsident von 1933 bis 1945, litt an den Folgen der Kinderlähmung. Er initiierte bereits 1938 die Wohltätigkeitsorganisation „National Foundation for Infantile Paralysis“ (NFIP), die nach Heilungsmöglichkeiten und Präventionsmitteln für Polio suchte. „In den USA der 50-er Jahre war Polio ein sehr präsentes Thema, fast so stark wie die Atombombe. Vor vielen Kinofilmen liefen Werbetrailer der National Foundation über ihren Kampf gegen Polio“, sagt Prof. Dr. Ulrike Lindner, Professorin für Neuere Geschichte an der Universität zu Köln.

Unter amerikanischen Wissenschaftlern entstand ein erbitterter Kampf um den besten Impfstoff. Jonas Salk, Arzt und Immunologe an der University of Pittsburgh, entwickelte einen inaktivierten Totimpfstoff, der dreimal in den Arm gespritzt werden musste (inaktivierte Polio-Vakzine, IPV). Sein Konkurrent Albert Sabin, Arzt und Virologe an der University of Cincinnati, setzte auf einen Lebendimpfstoff, der deutlich einfacher zu verabreichen war – die Schluckimpfung (orale Polio-Vakzine, OPV).

Siegeszug in den USA, Zögern in Deutschland

Jonas Salk machte das Rennen. „Die NFIP wollte schnell einen Impfstoff und förderte Salk mit viel Geld. Er selbst war sehr ehrgeizig, offenbar auch eitel. So setzte er sich durch“, weiß Prof. Dr. Ulrike Lindner. Salks Methoden sind heute fragwürdig. So testete er seinen Impfstoff an 43 behinderten Kindern in einem Hospital und an seinen drei Söhnen. Wichtige wissenschaftliche Vorarbeiten seiner Mitarbeiter ließ er ungewürdigt.

Dennoch feierten die USA ihn wie einen Nationalhelden. Straßen, Brücken und Schulen wurden nach ihm benannt. Denn die Ergebnisse seiner Forschung galten als Siegeszug der westlichen Medizin. Prof. Lindner: „1954 gab es in den USA unter der Leitung der NFIP den größten Feldversuch in der Geschichte des Landes: 1,8 Millionen Kinder wurden geimpft, ein Teil mit dem Salk-Impfstoff, ein Teil mit Placebo. Die Eltern standen geradezu Schlange.“ Schnell war ausgewertet, dass die Erkrankungsrate bei den geimpften Kindern niedriger lag als bei nicht-geimpften. Deshalb starteten die USA 1955 eine Impfkampagne für sieben Millionen Kinder. Die Kinderlähmung ging rapide zurück.

„Viele europäische Länder haben anschließend Impfkampagnen gestartet. Leider nicht die Bundesrepublik Deutschland. Die Politik hat bis 1962 mit einer systematischen Impfkampagne gewartet“, sagt Karola Rengis vom Bundesverband Polio Selbsthilfe e.V. „Dieses Zögern hat viele Opfer gekostet, denn vielen Kindern hätte die Erkrankung erspart bleiben können. Es hat noch Epidemien gegeben, zum Beispiel 1959 in München.“ Doch das Gesundheitswesen lag in der Hoheit der Länder. Jedes Bundesland organisierte die Impfungen anders, Eltern mussten in manchen Bundesländern den Impfstoff privat bezahlen. Hinzu kam, dass es im Nachkriegsdeutschland keine führenden Forscher gab. Erst im Dezember 1961 einigten sich die Gesundheitsminister und –senatoren, die Schluckimpfung flächendeckend und kostenfrei einzuführen. Sie entschieden sich für den Lebendimpfstoff von Albert Sabin, der inzwischen aufgeholt hatte und im Ostblock große Erfolge mit seinem Impfstoff feierte. 

Ziel verfehlt

Die weltweiten Impfkampagnen hatten Erfolg. 1988 verkündete die WHO das Ziel, Polio bis zur Jahrtausendwende auszurotten. Doch der Plan misslang. Zu tückisch ist dieses Virus, das immer wieder Rückzugsgebiete findet. Wer infiziert wird, merkt dies unter Umständen nicht, wird aber zur Gefahr für all diejenigen mit schwachem Immunsystem – für Kinder. Immerhin erklärte die WHO Europa am 21. Juni 2002 offiziell für poliofrei.

„Das ist ein Trugschluss“, sagt Karola Rengis. „Polio ist nur wenige Flugstunden von uns entfernt.“ Das Virus hat in Nigeria, Afghanistan und Pakistan überlebt. Allein im vergangenen Jahr zählte die WHO 417 Fälle, Tendenz steigend. Im Bürgerkriegsland Syrien traten im Oktober 2013 die ersten neuen Fälle auf, da die Impfquoten deutlich gesunken waren. Das Robert-Koch-Institut (RKI) warnte, dass die Infektion nach Deutschland eingeschleppt werden könne. Vor allem Kinder unter drei Jahren seien eine Risikogruppe. Das RKI empfahl, bei allen Flüchtlingen aus Syrien den Impfstatus zu kontrollieren und fehlende Impfungen zu vervollständigen. Die WHO rief die internationale Polio-Notlage aus.

Es trägt nicht zur Beruhigung bei, dass Wissenschaftler der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn gemeinsam mit Kollegen aus Gabun im Jahr 2010 im Kongo ein mutiertes Virus entdeckten, das den Impfschutz unterläuft. Bei der Epidemie im Kongo wurden 445 Menschen infiziert, 209 von ihnen starben. Die hohe Sterblichkeit machte die Wissenschaftler stutzig. „Wir haben Polio-Viren aus Verstorbenen isoliert und genauer untersucht“, erklärt Dr. Jan Felix Drexler, der inzwischen in den Niederlanden arbeitet. „Der Erreger trägt eine Mutation, die seine Gestalt an einer entscheidenden Stelle verändert.“ Resultat: Die durch die Impfung induzierten Antikörper können das mutierte Virus kaum noch erkennen und außer Gefecht setzen.

Ausrottung statt Kontrolle

Die Suche nach einem potenteren Impfstoff setzt wieder bei den US-Wissenschaftlern Jonas Salk und Albert Sabin an. Möglich, dass die IPV- und OPV-Impfungen der beiden Kontrahenten erst dann besonders wirkungsvoll sind, wenn sie miteinander kombiniert werden. Das jedenfalls berichten die Wissenschaftler um Bruce Aylward, der bei der WHO für die Bekämpfung von Polio verantwortlich ist, in der Fachzeitschrift „Science“.

Es bleibt das Ziel der WHO, Polio auszurotten. „Dazu müssen massive Impfprogramme, Hygiene-Maßnahmen und Aufklärung miteinander verknüpft werden. Denn was nützt der beste Impfstoff, wenn die Menschen sich weigern, ihn zu schlucken?“, fragt Karola Rengis. In Nigeria kursiert das Gerücht, der Westen wolle die muslimische Bevölkerung mit Hilfe der Impfungen unfruchtbar machen. Geistliche predigen gegen den Impfschutz, Kriegsherren sprechen Impfverbote aus, Impfhelferinnen wurden erschossen.

„Wir werden nicht locker lassen“, meint Karola Rengis. Sie erklärt Kompromisslösungen, nach denen der Erreger nicht vollständig ausgerottet, aber effektiv kontrolliert werden soll, eine klare Absage. „Wer von Kontrolle spricht, hat die Krankheit nie am eigenen Leib gespürt.“

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